Schutzlos in Odessa

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Wer in der Ukraine gegen Korruption oder für Bürgerrechte kämpft, lebt gefährlich: Die Angriffe auf Aktivisten nehmen überall im Land zu.

Oleg Mykhailyk ist dem Tod zum zweiten Mal in fünf Jahren von der Schippe gesprungen. Am 22. September kehrte der 43-jährige Lokalpolitiker von einer Kundgebung zu seiner Wohnung im Zentrum Odessas zurück, da schoss ihm ein Attentäter in die Brust. Er war klinisch tot.

Oleg Mykhailyk

Die Hafenstadt am Schwarzen Meer ist eine der reichsten Städte der Ukraine – und eine der korruptesten und kriminellsten. Bürgermeister Gennadij Truchanow gehörte einem italienischen Polizeibericht von 1998 zufolge in Odessa zu einer Mafiagruppe. Heute steht er vor Gericht, angeklagt von der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Korruption, wegen Verdachts auf Amtsmissbrauch und Korruption. Mit anderen, teils als Mafiosi identifizierten Geschäftsleuten soll der Bürgermeister Odessa kontrollieren. Oleg Mykhailyk kritisiert seit Jahren fragwürdige Bauprojekte des Bürgermeisters und seiner Entourage.

Schon Mitte Dezember 2013 versuchte man Mykhailyk zu töten, zwei Unbekannte wollten ihm mit einer Metallstange das Genick brechen. “Ich hatte einen Schutzengel – der Schlag traf nicht richtig. Nach drei Wochen Krankenhaus war ich wieder halbwegs in Ordnung”, sagt Mykhailyk. Der Besitzer einer kleinen Brandschutzfirma, verheiratet, Vater zweier Kinder, kaufte sich eine Pistole für Gummiprojektile und machte weiter. In Odessa vertritt er die neue Reformpartei Sila Ludjej (Kraft der Menschen) – und will Bürgermeister werden.

Am Tag des Attentats im September nahm Mykhailyk an einer Demonstration gegen ein illegales Bauprojekt an einem städtischen Strand teil. Dann der Schuss. Tagelang kämpften die Ärzte um sein Leben. Die Polizei nahm drei Georgier fest, die den Mordversuch organisiert haben sollen. Mykhailyk sieht die Ermittlung wegen einiger Ungereimtheiten skeptisch. Der Auftraggeber des Anschlags ist – angeblich – unbekannt.

Vier Jahre nach der Revolution auf dem Kiewer Maidan werden ukrainische Aktivisten, die gegen Korruption und Umweltzerstörung kämpfen oder sich für Bürgerrechte einsetzen, überall attackiert. Autos brennen, Büros werden verwüstet, sie werden mit Säure überschüttet – oder ermordet. Tetyana Pechonchyk vom Kiewer Menschenrechts-Informationszentrum registrierte seit Anfang 2017 mindestens 110 Angriffe, die meisten 2018. “Wir haben nur geringe Ressourcen, manche Opfer haben Angst – wir erfassen sicher längst nicht alle Attacken”, sagt Pechonchyk. Die jüngsten Morde: Am 5. Juni fand man in Eschar, Region Charkiw, den Aktivisten Mmykola Bychka erhängt im Wald. Am 31. Juli wurde in Berdyansk am Asowschen Meer Witalij Oleschko erschossen, der vor der Regionalverwaltung wegen mutmaßlich korrupter Landgeschäfte demonstriert hatte. Pechonchyk sieht Gründe für die vielen Übergriffe: “Es gibt in der Ukraine heute ungleich mehr Aktivisten und Bürgergruppen als vor 2014. Zugleich regierten Behörden und Eliten so korrupt wie zuvor, und: “Sie schrecken vor nichts zurück, um ihre Pfründe zu verteidigen.” Dagegen sind für Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko Aktivisten teils selbst verantwortlich für die Angriffe: Sie schüfen “eine Atmosphäre totalen Hasses auf die Regierung” mit.

Die zwei Schläger rufen: “Pass auf, du Nutte, wo du deine Nase reinsteckst!”

Als im Juli der Kiewer Aktivist Witalij Schabunin den Protest vor der Sonderstaatsanwaltschaft anführte, weil Ermittlungen gegen den Sohn des Innenministers eingestellt wurden, warf man ihm ätzenden, grünen Schleim ins Gesicht – Medien identifizierten als Täter Personen, die dem Innenminister nahestehen.

Doch nirgendwo leben Aktivisten so gefährlich wie in Odessa. Grigorij Kosma untersucht mit Kollegen ein Immobiliengeschäft der Stadt auf einem früheren Militärflughafen, es geht um Hunderte Millionen Euro. Er berichtete darüber im Investigativdienst Slidstvo. Sein Kollege Michail Kosakon ist Zeuge der Anklage im Prozess gegen Bürgermeister Truchanow. Er wurde im Frühjahr gewarnt, er solle ermordet werden. “Wir sind fast alle nur noch mit Pistole unterwegs”, sagten Kosma und Kosakon der SZ. Am 2. August half keine Waffe: Ein Lkw rammte ihr Auto mit hohem Tempo und machte das Fahrzeug zu Altmetall. “Wir haben nur durch ein Wunder überlebt”, sagt Kosakon. “Angebliche Attentäter sind verhaftet. Auftraggeber und Mittelsmänner sind angeblich unbekannt.”

Lilia Leonidowa zog Ende 2015 in Odessas Stadtrat ein. Bald wunderte sich die Bauingenieurin über Privatisierungen städtischen Eigentums, Tarnfirmen, große Eile selbst bei Millionen-Investitionen wie einem neuen Rathaus und dem neuen Stadtteil auf dem alten Militärflughafen. “Ich begann, in den Ausschüssen Fragen zu stellen: Wohin geht das Geld? Wieso die Eile? Warum fehlen Unterlagen?” Ende Juni 2017 verprügelten zwei Schläger Leonidowa, sie riefen: “Pass auf, du Nutte, wo du deine Nase reinsteckst!”

Seither habe sich das Klima nicht geändert, sagt Leonidowa. “Selbst, nachdem der Bürgermeister offiziell des Amtsmissbrauchs beschuldigt wurde, fordert auf Ratssitzungen keiner seinen Rücktritt oder fragt, ob dieses oder jenes Geschäft legal ist. Und ob vielleicht Mafiosi die Stadt kontrollieren.” Der Bürgermeister ist gut vernetzt. Ein Kiewer Gericht weigerte sich, Truchanow zu suspendieren und setzte ihn auf freien Fuß. Präsident Petro Poroschenko eröffnete 2017 mit Truchanow ein Kindercamp, Poroschenkos Frau kam dieses Jahr zu einem Termin. Als die SZ Truchanow um ein Interview bittet, lässt er ausrichten, seine Anwälte hätten ihm angesichts des Verfahrens von Stellungnahmen abgeraten. “Alle Informationen über Odessas Entwicklung” seien auf der Webseite der Stadt und in Medien zu finden.

Kaum ein Angriff wird aufgeklärt, auch beim Mordversuch auf Mykhailyk sieht es so aus. Vom Anschlag gibt es Bilder der Überwachungskamera der Polizeihauptwache. “Doch bisher stellt uns die Polizei die Aufnahmen nicht zur Verfügung”, sagt er. Die Kugel des Attentäters steckt noch in seinem Körper. “Am liebsten würde ich sie in einer deutschen Klinik herausoperieren und von deutschen Kriminalisten untersuchen lassen. Ukrainischen Behörden traue ich nicht mehr.”

Quelle: Süddeutsche Zeitung